Bildung: Ware, Privileg oder Weg zur Mündigkeit?
Sieben Thesen
Rainer Fischbach
www.rainer-fischbach.info
rainer_fischbach@gmx.net
Mehr Bildung wagen! Bildungskrise als Machtfrage
Volksuni-Werkstatt
2004 / Berlin 28.-29. Mai 2004
- 1. Es geht um unsere Köpfe und deshalb um unsere Leben!
- Die »Bildungsreform«, die
uns Regierung, Medien undWirtschaft verkaufen wollen,
ist eine Mogelpackung: es geht dabei nicht um die eine oder
andere Änderung der Institutionen und Programme des
Bildungswesens, sondern um die Macht über unsere Köpfe!
- Es geht um die künstliche Verknappung von Bildung durch die
Standardisierung und rationierte Zuteilung (z.B. Bildungsgutscheine)
für die Massen, durch die verschärfte Selektion
beim Zugang zu wissenschaftlicher Bildung, zu umfassendem
Grundlagen- und Reflexionswissen, durch die Verknappung
kultureller Angebote, durch Angriffe auf die Lebenszeit
der Menschen (Arbeitszeitverlängerung, Auszehrung
durch Wegeverlängerung);
- es geht um die weitere Privatisierung von Lebensrisiken,
hier: des Risikos der Nichtverwertbarkeit der Arbeitskraft,
durch scheinbare Chancengleichheit und Wahlfreiheit;
- es geht schließlich
um die weitere soziale Spaltung und Oligarchisierung der
Gesellschaft durch die Pflege von Eliten und die Einrichtung
von Mechanismen der kontrollierten Kooption.
Letzten Endes geht es also um die
Sicherung und Vertiefung von Herrschaft durch die Vereinzelung
der ihr Unterworfenen sowie die Rationierung von Reflexionsressourcen,
d.h. von Ressourcen des Widerstands und der Emanzipation.
- 2. Wider die Spaltung von Bildung und Ausbildung
- Die Spaltung von Ausbildung als die deren Verwertbarkeit sichernde
Pflicht für die Massen und Bildung als das wohlverdiente
Privileg einer Kür der Eliten sperrt
- die einen
in das Gefängnis einer verdummten Instrumentalität und
- die anderen bestenfalls in das einer folgenlosen Reflexivität,
wenn nicht das einer belanglosen Schöngeisterei ein.
Dabei ist nichts mehr gefordert als
- die folgenreiche Reflexion
über die Ziele des Handelns sowie
- die kenntnisreiche Deliberation
der dazu proportionalen Technostrukturen, deren das Leben bedarf,
wenn es gilt,
- den blinden Zwängen der Kapitalverwertung
einerseits sowie
- einer gesellschaftlich unbeherrschten,
die Eindimensionalität schlichter Zweck-Mittel-Relation
längst übersteigenden
Technik andererseits
zu entgehen. Unsere Mittel sind nie nur unsere Mittel
und nicht nur wir stellen etwas mit ihnen an, sondern sie stellen
auch etwas mit uns an!
- 3. Die »Bildungsreform« ist Teil einer
umfassenden Tendenz zur Oligarchisierung
- Trotz aller Bekenntnisse zur Demokratie und zur
Chancengleichheit, trotz aller Beschwörungen eines
Wissens- und Qualifikationsmarktes, auf dem sich alle
als prinzipiell gleiche Teilnehmer treffen, um sich
der unsichtbaren Hand zu unterwerfen, die nach herrschender
Lehre die effizienteste Verwendung aller Ressourcen garantiert:
die tatsächlich betriebene Politik fördert die Herrschaft
der Wenigen und die Aneignung eines wachsenden Anteils
am Produkt durch diese. Dazu gehören:
- die bereits angeführte, verschärfte Selektion beim
Zugang zur Bildung sowie
die Förderung von Eliten und fragwürdiger
Forschungsschwerpunkte (z.B. in der Molekularbiologie);
- die tatenlose Duldung der Verelendung einer wachsenden Anzahl
von Kindern, die in der Folge sozialökonomischer Prozesse
(zunehmende Arbeitslosigkeit, Auflösung familiärer
Strukturen, lebensfeindliche Wohnumgebung, medialisierung des
Alltags und damit des Weltzugangs) unter Bedingungen aufwachsen,
die der Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten
extrem feindlich sind;
- die systematisch betriebene Diffusion politischer Verantwortung
in unverantwortliche und demokratisch unlegitimierte Expertenzirkel;
- die selbstgewählte Inkompetenz und Ohnmacht der
öffentlichen Auftraggeber gegenüber den
industriellen Auftragnehmern (siehe Toll Collect etc.)
- die vortschreitende Privatisierung öffentlicher Güter
sowie die Umwandlung hoheitlicher Aufgaben in verpachtbare Pfründe
(Wasser, Informationsinfrastruktur, wiederum Toll Collect etc.)
Zusammen mit der Auflösung sozialstaatlicher Einrichtungen läuft
das auf einen kalten Putsch von oben, d.h. der Besitz- und Funktionseliten
hinaus! (Die Putschisten sitzen bei Sabine Christiansen und jammern
uns die Ohren voll!)
- 4. Die falschen Versprechen der Elite
- Der Elitenkult pflegt sich darauf zu berufen,
dass erstens die Auswahl und Förderung der Besten im allgemeinen
Interesse sei und zweitens dabei besonders gute Ergebnisse erzielt
würden. Beides ist jedoch nicht der Fall:
- Ein elitäres Bildungssystem mit Eliteuniversitäten
ist weder eine Garantie für eine humane Gesellschaft noch
für wirtschaftlichen Erfolg. Eliteuniversitäten
vertragen sich sehr gut mit einer Arbeitshausökonomie
sowie mit einem Staat, der massenhaft einkerkert und hinrichtet.
Man kann jedoch auch ohne Eliteuniversitäten einen
industriellen Weltmarkterfolg nach dem anderen feiern!
- Die Kompetenz der Auswahlgremien bzw. die Effektivität der Verfahren zur Entdeckung von Begabungen ist angemaßt. Vielmehr
verstärken die Verfahren die ohnehin wirksamen Selektionsmechanismen
und stellen deshalb vor allem eine Verschwendung knapper und teurer
Arbeitskraft dar. Wahrscheinlich würde ein introvertierter Spinner
mit schlechten Schulnoten wie Albert Einstein durch sämtliche
Auswahlverfahren von Eliteunis fallen!
- Die Rolle von Eliteanstalten als Karrieresprungbrett
bzw. als selbstverständliche Karrierstation für
ohnehin Privilegierte zieht vor allem Bewerber mit
fragwürdiger Motivationan an. Heteronome
Motive überdecken dabei den intrinsischen
Zusammenhang von Bildung und Emanzipation.
- Die Herausbildung von Eliteeinrichtungen verstärkt
den ohnehin im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb
angelegten Hang zum Konformismus. Die Pflege und Entwicklung
des Wissens bedürfen keiner Hierarchie von Institutionen
sondern des freien Diskurses. Schon ein William von
Occam hat in Oxford keinen Magistertitel erhalten!
Soviel auch zu dem Vorurteil, dass
ein Studium ohne offiziellen Abschluss wertlos sei!
Eliteschulen
sind vor allem nutzlos, teuer und stockreaktionär!
- 5. Die falschen Versprechen des Marktes
- Im Gegensatz zur hierarchischen Zuteilung von oben soll
der freie Markt angeblich zu einer effizienten Allokation
der Ressourcen führen. Doch diese Effizienz ist
eine Eigenschaft eines idealen Modells, das nur auf sehr
wenige reale Märkte und selbst auf die nur angenähert
zutrifft:
- Die Entscheidung für ein schlechtes bzw. unpassendes
Bildungsangebot ist nicht so leicht revidierbar wie die für
einen schlechten Bäcker.
- Der »Bildungsmarkt« ist für die meisten
Teilnehmer intransparent. Dies begünstigt Anbieter mit
großer Marktmacht und Nachfrager mit großem
Bildungskapital, also die Prozesse der Oligopolisierung
und Oligarchisierung.
- die Vertragsfreiheit, die ein wesentliches Element einer
freien Marktordnung ist, gestattet es den Anbietern, sich die
Nachfrager auszusuchen, die mit geringstem Einsatz zu den
größten Lernerfolgen zu führen sind, und
verschärft dadurch die soziale Spaltung.
- Die Güter Bildung und Wissen lassen sich im
Unterschied zu Gütern wie Brot oder Automobilen
nicht exklusiv aneignen. Damit fehlt ihnen ein wesentliches
Kriterium handelbarer Güter.
- Der Schein der Exklusivität motiviert insbesondere
in einer durch wirtschaftliche Konkurrenz geprägten Umwelt
zu einem destruktiven individuellen Umgang mit Wissen,
der andere bewusst davon auszuschließen versucht.
- Die Ökonomisierung von Bildung und Wissen erzeugt
auch gesellschaftliche Tendenzen zu deren künstlicher
Verknappung. Eine Bildungsökonomie kann es nur geben,
wenn es asymmetrische Bildungsniveaus mit verbreiteter
Bildungsknappheit auf der Nachfrageseite gibt; wobei
wirtschaftliche Interessen gebieten, diese Situation
nicht grundsätzlich zu revidieren, sondern
möglichst lange aufrechtzuerhalten, um unter
Einsatz minimalen Aufwands maximalen Profit zu schöpfen.
Eine solche Entwicklung entmutigt Bildungsmotivationen,
verdecken ebenfalls den wesentlichen Zusammenhang
von Bildung und Emanzipation und führen schließlich
dazu, dass gesellschaftliche Potentiale ungenutzt bleiben!
Der
Markt und das Wissen sind Sphären, in denen
gegensätzliche Gesetze gelten. Das Interesse an der
Vermarktung erzeugt Barrieren, die das Wachstum und die
Verbreitung des Wissens behindern.
Der »Bildungsmarkt« stellt deshalb keine attraktive
Alternative zur hierarchischen Zuteilung von Bildung dar.
Vielmehr verstärkt er, weil er kein idealer Markt
ist, die Tendenz zur Bildungsverknappung, zu
Oligopolisierung und Oligarchisierung.
- 6. Mündigkeit statt Bildungsbetrug
- Wer in der Bildung vor allem eine Ware sieht oder ein
Privileg, betrügt vor allem sich selbst, doch auch
andere um deren Potential: Bildung als Weg zur
Emanzipation, als Angebot zur Selbstveränderung
und als Chance zum Bestehen in der Welt und, mehr noch,
zur Veränderung der Welt! Wer sich bildet,
ist weder Kunde auf einem Markt noch Adept eines arkanen
Initiationsritus, sondern dabei, sich für die Welt
öffnend selbst zu verändern.
Bildung und Wissen sind zwar nicht alles, doch
ohne sie ist auch die Chance vertan, unser Leben
zu gestalten und heteronomen Kräften zu widerstehen,
ohne sie sind wir nur noch blind
der Herrschaft Unterworfene.
Ein emanzipativer Bildungsbegriff muss deshalb
auch die Verkürzungen vermeiden, die
heute in die Bildungsdiskussion üblich sind.
- So erstrebenswert Bildungstitel für
die Individuen in einer Gesellschaft, in der diese einen
wirtschaftlichen Wert repräsentieren, auch sein
mögen, kann deren Vermehrung nicht das primäre
Ziel einer emanzipativen Bewegung sind; zumal sich diese
Vermehrung in den meisten Gesellschaften, in denen sie
stattfindet, mit der wirtschaftlichen Entwertung und
inhaltlichen Ausdünnung der Titel verbindet.
- So vorbildlich das Schulwesen z.B. in den skandinavischen
Ländern sein mag, so sehr muss man sich vor der Illusion
hüten, man könne es einfach klonen: dieses
Schulwesen ist Ausdruck einer kulturell sehr homogenen,
durch den lutherischen Protestantismus, seine pietistische
Übersteigerung sowie seine sozialdemokratische Profanisierung
geprägten Gesellschaft; einer daher sehr
bildungsbeflissenen und egalitären Gesellschaft.
Eine institutionelle und programmatische
Kopie wird unter anderen Randbedingungen andere
Resultate bringen bzw. auch scheitern!
- Ein Bildungsprogramm, das nur in der Ausweitung
des theoretischen Lernens nach dem Vorbild der herkömmlichen
Schule bzw. Universität besteht, wird wesentliche
gesellschaftliche und individuelle Potentiale unausgeschöpft
lassen. Das sinnlich-tätige Auffassen, das in einer zunehmend
medialisierten Gesellschaft ohnehin ins Hintertreffen gerät,
ist für viele Menschen, die in der herkömmlichen
Schule versagen, der entscheidende kognitive Kanal und kann
anderen zusätzliche Dimensionen eröffnen. Vor allem
auch Ganztagsangebote, die nur in der Verlängerung der
herkömmlichen Schule bzw. deren Ergänzung um die
Aufbewahrungsfunktion bestehen, sind pädagogisch
kontraproduktiv!
- Wer der heute auch in der Linken verbreiteten Neigung
folgt, die Notwendigkeit pädagogischer Alternativen von
den Veränderungen der Produktionssphäre abzuleiten,
die die im Zeichen des Übergangs zur Wissensgesellschaft
stattfänden, begibt sich in die Abhängigkeit von
einer ideologischen Schimäre. Weder entsprach die
industrielle Organisation der Vergangenheit durchgängig
dem hierarchischen Modell der Totalsteuerung von oben (das
war mehr ein ideologischer Wunschtraum der Managementtheoretiker),
noch gibt es heute eine eindeutige Tendenz zu mehr
Souveränität der unmittelbaren Produzenten.
Vor allem jedoch werden bei ungebrochener Fortsetzung
der sozialökonomischen Tendenzen die meisten
Schulabgänger weder in der industriellen Produktion noch
in der Wissenssphäre arbeiten, sondern, wenn überhaupt,
als Verkäfer, Bedienungen, Küchenhilfen, Reinigungs-
und Pflegekräfte. Unberührt davon gibt es jedoch
viele gute Gründe, Jugendlichen die Chance zu geben,
sich zu mündigen Menschen zu entwickeln, die dazu in
der Lage sind, ihr Leben zu gestalten und sich in der Gesellschaft
zu engagieren.
- Die Mängel des deutschen Bildungssystems, deren
größter in seiner hohen Selektivität liegt,
sind schon lange bekannt. Die PISA-Studie fügt den
entsprechenden Einsichten nichts hinzu.
Sie
stellt jedoch andererseits den Versuch dar, Bildungserfolg
durch höchst fragwürdige Methoden anhand ebenso
fragwürdiger Kriterien zu messen,
der die Unterstützung durch
Kräfte, die der Pädagogik emanzipative Ziele
setzen möchten, nicht verdient.
Wenn es heute schon üblich ist, unter dem Titel
»Bildungsreform« das Rezept für ein
gesellschaftspolitisches Rollback zu verbergen,
sollte die Linke dieses Spiel nicht mitspielen,
indem sie sich der Illusion hingibt, den in
diesem Zusammenhang gepflegten Bildungsalarmismus als
Vehikel einer emanzipativen Pädagogik nutzen zu
können. Dabei wird nicht einmal eine Wiederauflage
der halbierten Bildungsreform der 1970er Jahre herauskommen.
- 7. Wir brauchen weder eine Hierarchie der Bildungszuteilung
noch eine Ökonomie des Bildungsmarktes, sondern eine Kultur
der Bildungsverschwendung!
- Bildung und Wissen zu mehren und anzueignen kostet zwar
immer noch unsere Lebenszeit und einige materielle Ressourcen,
doch wenn die materielle Produktion immer weniger unserer
Lebenszeit bedarf, dann unterliegen diese Voraussetzungen
immer weniger dem Knappheitsdiktat. Damit wird aus dem
Gebot zur Mündigkeit und zum aufgeklärten
Handeln die Pflicht zur Bildungsverschwendung.