Neue »Lerntechnologien«?

Thesen zu Versprechen, Potential und Realität elektronisch gestützter Lernprozesse

Rainer Fischbach
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Fortbildung 2001plus: Motor für Entwicklung. Kongress der KONFERENZ der zentralen Fortbildungsinstitutionen für Jugendarbeit und Sozialarbeit, Berlin, 25.-27. Oktober 2001.

Rückbesinnung: Wissen ohne Subjektivität und argumentative Unterstützung ist kein Wissen
Der gegenwärtigen Diskussion um Begriffe wie Wissen und Wissensgesellschaft, Lernen und seine elektronische Unterstützung liegt ein verdinglichter Wissensbegriff zugrunde, der Wissen für eine magische Substanz hält, die man elektronisch speichern und transportieren könne, und fällt damit weit hinter das in der philosophischen Tradition erreichte Einsichtsniveau zurück. Diese bestimmt seit Kant Wissen als gerechtfertigten wahren Glauben. Konzepte von Wissen und Lernen, die diese notwendigen Faktoren der Subjektivität, der argumentativen Rechtfertigung und der Wahrheit ignorieren, sind eher solche der Verdummung als der Wissenserweiterung.
Irreführender Begriff: Es gibt keine Lerntechnologien
Lernen ist ein Prozess, den Individuen, sei es einzeln oder im Kollektiv betreiben und erfahren. Entscheidend ist, dass die involvierten Individuen dabei Wissen oder Fertigkeiten erwerben. Sofern sie dabei auch aktiv sind, mögen sie sich geistiger Techniken bedienen. Technologien des Lernens kann es jedoch nicht geben, wenn der Begriff der Technologie - Technologie ist das systematisierte Wissen von den objektivierenden und objektivierten naturbeherrschenden Verfahren - seine Bedeutung behalten soll. Es gibt dagegen Technologien, die den Verfahren und Gerätschaften zur Verbreitung bzw. zum Austausch von Information zugrunde liegen. Doch diese sind von sich aus keine des Lernens.
Vordergründiges Motiv: ökonomische Anpassung
Erkundigt man sich nach den Motiven, die Nachfrager von Bildung (nachfolgend steht immer das Wort Bildung, auch wenn genauer von allen erdenklichen Präfix-Bildungen dieses Wortes die Rede sein müsste), vor allem die Unternehmen und sonstigen Organisationen veranlassen, die elektronischen Techniken der Informationsvermittlung zu Technologien des Lernens zu promovieren, stößt man vor allem auf ökonomische (siehe z. B. die Ergebnisse der Befragung von 350 führenden deutschen Großunternehmen nach ihrer Einschätzung des elektronischen Lernens durch die unicmind.com AG): Kostenreduktion gegenüber Präsenzveranstaltungen, höhere Aktualität des Inhalts, größere Flexibilität der Durchführung. Kurz: Man glaubt, dass diese Techniken es erlaubten, Form, Verlauf und Inhalt von Lernprozessen besser an die wirtschaftlichen Ziele der Unternehmen anzupassen. Das Verhältnis der neuen zu den herkömmlichen Weisen soll dabei substitutiv sein.
Hintergründige Nicht-Motive: Neue Dimensionen des Lernens
Kaum die Rede ist dagegen von den Perspektiven, die vor kurzem noch im Zentrum der Diskussion zumindest in den Fieulletons und auf den Bildungsseiten der Presse standen: Sprengung der curricularen Fesseln, Wissensvernetzung mit globaler Perspektive, Selbständigkeit der Lernenden, ja ihre Befreiung von institutioneller Bevormundung sogar. Die unendliche Vielfalt und Freiheit des Cyberspace sollte an die Stelle des öden, reglementierten Alltags der institutionalisierten Bildung treten. Solche Ziele sind vielleicht noch nicht völlig tot, doch ist ihre handlungsleitende Macht praktisch verdampft.
Das herrschende Bedürfnis: der Bildungswürfel
Was den mächtigen Nachfragern vorschwebt, ist, um es in ein kulinarisches Bild zu fassen, der (Aus/Fort-)Bildungswürfel, den die Mitarbeiter zwischendurch schnell am Arbeitsplatz aufbrühen, anstatt den zeitraubenden und teuren Gang ins Restaurant zu unternehmen. Die hauptsächliche Nachfrage: Produktschulung bzw. der Erwerb weitgehend standardisierter Fertigkeiten, kommt diesem Ansatz entgegen. Meistens geht es um die Bedienung standardisierter Softwareprodukte.
Die herrschende Tendenz: umfassende Legoisierung des Bildungsangebots
Bildung und ihre Präfixableitungen verwandeln sich zunehmend in Waren, deren Vermittlung sich größenteils außerhalb der traditionellen, staatlichen oder staatlich lizensierten Institutionen vollzieht. Der Zutritt zu dem entsprechenden Markt erfordert nur geringes Kapital und die Elektronifizierung der Bildungswaren ebnet auch geographische Barrieren ein. Die Folge ist ein kaum noch überschaubares Angebot. Die engen funktionalen und ökonomischen Kriterien folgende Nachfrage paart sich zwangsläufig mit einem starken Sicherheitsbedürfnis, das unter diesen Bedingungen nur durch Standardisierung und ein ausuferndes Zertifizierungswesen zu befriedigen ist. Schienen die elektronischen Medien einmal eine Individualisierung und Befreiung des Lernens zu versprechen, befördern sie unter den gegenwärtigen Bedingungen vor allem seine Legoisierung. Individualität reduziert sich auf den Konsum einer besonderen Kombination standardisierter Produkte.
Der Widerspruch: künstliche Verknappung angesichts wuchernder Fülle
Die elektronischen Techniken der Reproduktion und Verbreitung von Information schaffen eine Situation, in der es keinen Mangel an vergegenständlichter Information mehr gibt. Wer gleichzeitig Bildung fortschreitend in eine Ware verwandeln will, die zwangsläufig als vergegenständlichte Information auftritt, muss sie künstlich verknappen, d. h. neue Barrieren, merkantilistische Handelsprivilegien und monopolistische Strukturen (z. B. durch Branding und Franchising) aufbauen. Als Ware behindert Bildung das Wachstum des Wissens.
Die Gefahr: eine Neigung zu unterkomplexen Lernprozessen
Ein vereinfachtes Konzept elektronisch gestützten Lernens scheint bestimmte Klasse von Bildungsaufgaben (Produktschulung, Training, einfacher Fertigkeiten, Kommunikation inkrementeller Neuerungen) aus der Sicht der Organisationen effizient zu lösen. Dies mag die Neigung verstärken, sich auf diese Aufgaben zu konzentrieren und jeden Wissenserwerb, der sich deren einfachem Schemata verweigert, für illegitim oder gar schädlich zu halten. Betroffene Organisationen mögen trotz permanenten Lernens ihrer Mitglieder gegen eine Wissensmauer laufen. Sie verhalten sich wie der Betrunkene, der seinen anderswo vorlorenen Schlüssel im Schein der Laterne sucht, weil er nur dort etwas sieht. Selbst ein Licht anzuzünden scheint eine zu große Herausforderung zu darzustellen.
Die Alternativen: alter Wein in neuen Schläuchen oder neue Formen des Lernens?
Tatsächlich ist durch den Einsatz moderner I&K-Technologien allein der Charakter der dadurch beeinflussten Prozesse noch längst nicht vollständig festgelegt. Man kann einfach - und das stellt (wiederum laut der Studie von unicmind.com) die dominierende Form elektrinisch unterstützten Lernens dar - alten Wein in neue Schläuche gießen, d. h. herkömmliche Materialien wie Bücher oder programmierte Unterweisungen elektronifizieren und auf CD brennen bzw. ins Netz stellen - oder man kann versuchen, die technischen Möglichkeiten der elektronischen Medien, vor allem der auf das Internet aufbauenden zu erkunden. Das Wort »erkunden« steht hier nicht zufällig, denn ob und wie z. B. die diversen Internet-Dienste Lernprozesse besser zu unterstützen vermögen als ältere Mittel, ist noch keinesfalls gesichert.
Das Spektrum der Möglichkeiten: Vielschichtigkeit verdeutlichen
Eine große Herausforderung liegt in der einer Präsentation von Wissens- und Argumentationszusammenhängen, die diese in ihrer Komplexität nachvollziehbar macht. Hypertext besitzt dafür sicher ein Potential. Seine Form befreit vom Zwang, die Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit eines Themas in ein lineares Schema pressen zu müssen. An seine Stelle tritt der Zusammenhang auf einander verweisender Dokumente. Die Produktion von hypertextuellen Lehrmaterialien ist jedoch eine anspruchvolle Tätigkeit mit hohem Qualifikations- und Zeitbedarf.
Das Spektrum der Möglichkeiten: An gedanklichen und argumentativen Entwicklungen teilhaben, die Lernenden bzw. die Wissensträger vernetzen
Aktives Lernen erfordert jedoch mehr als die Hypertextualisierung statischen Inhalts, nämlich lebende Hypertexte, die Wissen, bzw. die es rechtfertigenden Argumentationen in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung dokumentieren und die durch Vorschläge, Fragen, Antworten und Kommentare der Nutzer wachsen. Es geht dabei nicht nur um den Nachvollzug von Vorhandenem sondern um die Beteiligung an Entstehendem. Konzepte für das elektronische Lernen dürfen sich nicht so sehr am Konsum vorgefertiger Wissensbausteine orientieren, sondern müssen auf den Aufbau einer Infrastruktur für die Vernetzung des Wissens und seiner Träger in den und zwischen den Organisation zielen. Letzten Endes sind alle Lernende und alle Wissensträger. Die heute installierte Technik unterstützt entsprechende Konzepte wie etwa das Issue Based Information System (IBIS) jedoch meist nicht.
Systemische Grenzen: Konkurrenz verhindert Lernen
Die horizontale Ausbreitung des Wissens, also das Lernen von den Kollegen und von anderen Organisationen durch Vernetzung stößt an die Grenzen der Konkurrenz. Konkurrenzdenken, das in einer Marktwirtschaft zur selbstverständlichen mentalen Ausstattung der Akteure gehört, hindert diese daran, ihr Wissen zu teilen. Das gilt sowohl zwischen den Kollegen zum Schaden des Unternehmens bzw. der Organisation (das geht z. B. laut Financial Times Deutschland v. 2. 8. 2001 aus einer Studie der AfW Wirtschaftsakademie, Bad Harzburg hervor) als auch zwischen den Unternehmen und Organisationen zum Schaden der Volkswirtschaft. Die Möglichkeiten, die elektronische Medien eröffnen, bleiben also teilweise ungenutzt.
Die unterschätzte Dimension: Infrastruktur für die Wissensvernetzung und gut aufbereiteter Inhalt sind nicht zum Nulltarif zu haben
Auch wenn Kostensenkung das herausragende Motiv für den Einsatz von elektronischem Lernen ist: Inhalt angemessen aufzubereiten und noch mehr, eine Infrastruktur für die Wissensvernetzung bereit zu stellen, ist eine kostspielige Angelegenheit. Eine ausschließliche Orientierung an Kostensenkungszielen wird dem Potential des elektronisch unterstützten Lernens nicht gerecht.
Kontinuität wahrnehmen: Neue Techniken wie der Hypertext knüpfen an bewährte schriftkulturelle Traditionen an
Hypertext ist nicht so völlig revolutionär, wie oft behauptet, denn schließlich kennt auch unsere überlieferte Schriftkultur den Verweis, das Zitat, die Fußnote, den Exkurs, den Anhang, etc. als Mittel, die Linearität des Textes aufzubreachen und nicht zuletzt lesen wir Texte keinesfalls immer strikt von vorn nach hinten. Neu daran ist nur, dass man das Unterbrechende - sofern es in dieser Form verfügbar ist - sofort online geliefert bekommt. Fertigkeit in den Techniken der Schriftlichkeit und die Bereitschaft, auch einmal den Bildschirm zu verlassen, sind jedoch unverändert erforderlich.
Das kognitive Defizit: die den Menschen überfordernde raumzeitliche Struktur der elektronischer Kommunikation und Wissensrepräsentation
Die Formen der elektronischen Kommunikation und Wissensrepräsentation können die kognitiven Fähigkeiten von Menschen überfordern. Verzweigte Hypertexte vermögen Leser zu desorientieren. Der Computerbildschirm ist immer noch kein Medium, das die Übersicht komplexer Zusammenhänge ermöglicht. Er gibt nur eine Tunnelsicht des elektronischen Labyrinths. Vor allem fehlt der schnelle Wechsel zwischen der vergröbernden Übersicht und dem Zugriff aufs Detail, den die papierbasierten Kulturtechniken bieten. Elektronische Diskussionen geraten schnell aus den Fugen, weil Zwang zur Begrenzung der Beiträge fehlt, der von der endlichen physischen Präsenz der Teilnehmer ausgeht. Sein Status als Nicht-mehr-Gespräch und Noch-nicht-Briefwechsel lässt den elektronischen Austausch in die Lücke zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis fallen und begünstigt wahrscheinlich die oft beobachtete Zerfaserung der auf diesem Wege veranstalteten Diskussionen.
Das soziale Defizit: die fehlende Grammatik geglückter elektronischer Kommunikation
Herkömmliche Formen der Kommunikation haben ihre Etikette, die einzuhalten meist weder die kognitiven noch die moralischen Fähigkeiten der Beteiligten überfordert. Dem elektronischen Austausch fehlen bisher solche verbindlichen, an den Charakter des Mediums geknüpften und in der Interaktion der Partner durchsetzbaren Formen, die eine Auseinandersetzung in der Sache ermöglichen ohne den Respekt vor dem Gegenüber zu zerstören. Ihre Unverbindlichkeit setzt elektronische Diskussionen einer doppelten Gefahr aus: dem Ausbleiben naheliegender und notwendiger Kontroversen, wenn die Beteiligten sich beaufsichtigt fühlen (z. B. durch den Anbieter von Lehrprogrammen) einerseits und deren Abgleiten in verletzende Formen in unbeaufsichtigten Foren andererseits.
Das psychische Defizit: Menschen brauchen Menschen - auch zum Lernen
Lernen ist ein sozialer Prozess. Die Beziehungskomponente des Lernens auszublenden heißt bewährte pädagogische Erkenntnisse zu ignorieren. Auf sich selbst gestellt alleine zu lernen ist eine Fähigkeit, über die Menschen - die einen mehr, die anderen weniger - nur in begrenztem Umfang verfügen. Lernende brauchen die helfende, bestätigende wie korrigierende, lobende wie ermahnende Ansprache ebenso wie den Austausch mit den Lerngenossen, die gegenseitige Hilfe bzw. das gegenseitige Helfen und nicht zuletzt auch die Selbsteinschätzung im Vergleich mit diesen. Das elektronisch unterstützte Lernen ist deshalb - und die bisherigen Erfahrungen bestätigen dies - nicht als substitutive sondern als komplementäre Form zur klassischen Präsenzveranstaltung zu sehen.
Das Erlebnisdefizit: Lernen gewinnt durch raum-zeitliche Differenzierung
Menschen lernen unwillkürlich immer und überall. Man kann nicht nicht-lernen. Schon deshalb ist die Parole vom lebenslangen Lernen eine ausgewalzte Banalität. Trotzdem profitieren gerade die geplanten Lernprozesse, um die es hier geht, von unterstützenden Umweltfaktoren. Der besondere Ort, die hervorgehobene Zeit und die anderen Menschen können Lernprozesse stimulieren, ja sogar zum Anstoß für ungeplante, äußerst fruchtbare Lernprozesse werden. Die Integration des elektronisch gestützten Lernens in das Alltagskontinuum ist zwar kostensparend und bezüglich vieler Themen auch hilfreich, doch einschneidende Lernerlebnisse gewährt sie wahrscheinlich nicht - ganz abgesehen davon, dass hochqualifizierte Mitarbeiter die Teilnahme an Veranstaltungen außer Haus als Bestandteil ihrer Gratifikation ansehen und deren Wegfall als Motivationsbremse wahrnehmen.
Wunschdenken hilft nicht: weshalb es beim elektronischen Lernen keine Coaches gibt
Coaching ist zu einem Modewort zuerst der Management- und jetzt auch der Bildungsszene geworden. Dabei ist das vorwiegend anzutreffende Verhältnis sowohl zwischen Mitarbeitern und Managern als auch zwischen Lernenden und Lehrenden mit dem zwischen einem Spitzensportler und seinem Coach nicht vergleichbar: Es handelt sich vielmehr um Abhängigkeitsverhältnisse, in denen es keine Wahlfreiheit gibt. Während ein Spitzensportler seinen Coach selbst auswählt und austauscht, wenn er ihm nicht mehr passt, besteht diese Freiheit in den anderen Beziehungen nicht. Ein besser passender Begriff ist günstigstenfalls der des Tutors, obschon in den meisten Situationen, in denen elektronisch gestütztes Lernen stattfindet, das Ausmaß an Betreuung, das ein Tutor zu erbringen hat, nicht stattfindet. Eine solche Betreuung ist sicher anzustreben, doch in Wahrheit sind Bezeichnungen wie Tutor oder gar Coach eher Beschönigungen, ganz abgesehen davon, dass auch ein Tutor ein Seminar oder eine gute Vorlesung nicht ersetzen sondern höchstens ergänzen kann.
Die Zukunft der herkömmlichen Bildungsinstitutionen: je vorauseilender die Unterwerfung, desto zukunftsloser die Institution.
Verlieren herkömmliche Bildungseinrichtungen ihre Bedeutung? Sie werden dies im gleichen Maße tun, in dem sie sich an die Tendenzen, die das elektronisch gestützte Lernen heute hauptsächlich tragen und die von diesem wiederum gestärkt werden, vorbehaltlos anpassen: die Tendenzen zur Legoisierung der Bildung und zum Instant-Learning. Diese mögen in bestimmten Bereichen ihr Recht haben, doch für die zentralen Bildungsaufgaben werden die auf physischer Präsenz basierenden Formen des Lernens ihre Bedeutung behalten. Ob das innerhalb der überlieferten Institutionen oder in einem gänzlich anderen Rahmen geschieht, ist eine andere, hier nicht zu erörternde Frage. Dass die Schulen an ihren sich verschärfenden Widersprüchen nicht nur leiden sondern zunehmend zerfallen, erhöht die Attraktivität von Alternativen. Doch ist höchst fraglich, ob die völlige Verdinglichung und Kommerzialisierung der Bildung mit einer menschwürdigen Zukunft vereinbar ist.