Der Westen in der Sackgasse • Rainer Fischbach • 07.02.2025
[Mit Änderungen vom 01.03.2025]
Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) erhält gerade wachsende Aufmerksamkeit. Am Anfang stand 2022 ChatGPT des US-Unternehmens Open AI, ein sogenannter ChatBot, d.h. ein »Bot« (Kurzform für Roboter) mit dem man einen »Chat« (ein Gespräch) führen kann; wobei der nicht als humanoide Maschine auftritt, sondern mittels des vertrauten Endgeräts (PC, Tablet, Smartphone) mit dem Anwender kommuniziert. Die Technik dahinter besteht aus einem sogenannten LLM (Large Language Model), das ist ein Programm, das darauf »trainiert« wurde, Ausgaben zu produzieren, die wie Antwortsätze auf Benutzereingaben aussehen, indem hunderte Milliarden Parameter durch Probieren und wiederholte Korrektur bestimmt hat. Diese, auch zu anderen Zwecken angewandte, Technik nennt man Maschinenlernen. Dafür werden zig tausende GPUs (Graphik Processing Units, das sind die ursprünglich für Grafikkarten entwickelten Prozessoren, die Vektoroperationen ausführen, indem sie ganze Sequenzen von Daten parallel verarbeiten) eingesetzt, die gigantische Mengen an Energie fressen. Der Vorgang kostet jeweils zig Millionen Dollar. Die Nachricht aus China, dass es dort gelungen sei, diesen Aufwand um einen Faktor von 10–20 zu verkürzen, erregte großes Aufsehen und führte in Teilen der westlicher Politik kritisch gegenüberstehenden Öffentlichkeit zu Kommentaren, die das Ende US-amerikanischer Vorherrschaft im Hightech-Sektor gekommen sahen. Doch diese Reaktion kommt zu früh und verlangt nach Differenzierung. Nachfolgend sollen zunächst einige technische und ökonomische Sachverhalte betrachtet werden, vor deren Hintergrund dann zwei Thesen zur Lage des Westens mit einigen Erläuterungen folgen sollen. Der chinesische Erfolg spricht für gute Ingenieursarbeit, doch bedeutet er keinen fundamentalen Durchbruch. Seine Signifikanz besteht eher darin, dass er den bereits bestehenden Indizien für eine fortschreitende Schwäche des Westens weitere hinzufügt.
Zunächst die Fakten: DeepSeek-R1, so heißt das chinesische System, wurde nicht, wie von Hermann Ploppa auf Telegram verbreitet, mit »handelsüblichen billigen Halbleitern« gebaut, sondern mit 2048 GPUs des Typs H800 von Nvidia. Diese, im März 2023 eingeführte, Hardware ist nicht mehr das letzte Modell des Herstellers, darf aber seit Oktober jenes Jahres nicht nach China ausgeführt werden. Handelsüblich ist sie schon, doch zu einem Preis, der pro Einheit beim hundertfachen dessen liegt, was normale Leute für einen Laptop ausgeben. Der Witz an der Sache liegt darin, dass sie bestimmte Operationen, die den größten Teil der beim Maschinenlernen auszuführenden bilden, ungefähr zehntausend mal schneller erledigt als ein herkömmlicher Universalprozessor, wie er in einem handelsüblichen Laptop zu finden ist. Trotz eines hundertfachen Preises bedeutet das immer noch eine hundertfache Kosteneffizienz. Auch die Energieaufnahme ist deutlich geringer als die einer entsprechenden Anzahl von Universalprozessoren. Genau deshalb sind solche GPUs nicht nur beim Maschinenlernen, sondern bei zahlreichen technisch-wissenschaftlichen Berechnungen, bei denen die massiv parallele Ausführung von Vektoroperationen von entscheidender Bedeutung ist, nur noch um den Preis von heute nicht mehr akzeptablen Effizienzverlusten zu ersetzen. Die Frage ist nur, wie viele davon man brauchen wird und ob es immer die allerletzten und teuersten Modelle sein müssen. Nvidia, das sich auf diesem Feld in drei Jahrzehnten durch eine weitsichtige Politik der Produktentwicklung eine bisher unangefochtene Dominanz erarbeitet hat, wird nicht untergehen, während China dabei ist, diese Technik eigenständig zu entwickeln. Doch auch nur einen Gleichstand mit Nvidia zu erarbeiten, wird Zeit kosten und alles andere als leicht fallen.
Die Signifikanz von DeepSeek liegt auch nicht darin, dass, wie die Media Guerilla Berlin irrtümlich glaubt, »das alles längst schon kann«, was westliche Konsortien wie etwa StarGate planen, wo man, angefangen mit 100 Milliarden in diesem Jahr, in den folgenden Jahren weitere 400 Milliarden Dollar für Rechenzentrums-Infrastruktur ausgeben möchte, sondern darin, dass es bei reduziertem Aufwand die gleiche Leistung bietet wie die bekannten LLMs aus den USA und obendrein frei verfügbar ist. Liang Wenfeng, der Mann hinter diesem Coup, hat eine in China absolvierte Ausbildung und einige Erfahrung in Informatik und Elektrotechnik. Er machte mittels KI im Wertpapierhandel Milliarden, fing vor einigen Jahren an, mit selbst erworbener Hardware — Tausende von GPUs — Systeme aufzubauen und entwickelte das R1 und weitere Systeme mit Hilfe eines handverlesenen Teams »just for fun«, ohne erkennbare kommerzielle Ziele. Er wurde auch in China als exzentrischer Bastler belächelt.
Nach allem, was über die Sache bekannt ist, sieht sie nicht nach einem grundlegenden technischen Umsturz aus, sondern mehr wie von Experimentierlust getriebenes, doch solides, methodisch vorgehendes Engineering mit viel Sorgfalt im Detail. Das erinnert stark an den Weg, auf dem der deutsche Maschinenbau und einige weitere Disziplinen wie Chemie, Pharmazie, Optik und Elektrotechnik ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Weltstellung erarbeitet haben — etwa an Emil Keßler, der die britischen Hersteller von Lokomotiven aus dem Feld schlug, indem seine Maschine als einzige dazu in der Lage war, die erste wirkliche Bergstrecke zu bewältigen (die Geislinger Steige, deren landschaftliche Schönheit man seit Eröffnung der Neubaustrecke nur noch selten genießen kann). Ein Schritt zur Reduktion des Trainingsaufwands besteht in der Unterteilung der hunderten von Milliarden Parameter in Module von zig Milliarden und einer Aufteilung des Trainingsprozesses in eine entsprechende Anzahl von Teilschritten, die jeweils deutlich weniger Rechenaufwand verursachen als ihrem Anteil an der Gesamtheit entspricht; ein weiterer darin, die höheren Stufen des Trainingsprozesses, in denen die Korrektheit der Systeme verbessert werden soll, auf einfache, klar entscheidbare Aufgaben zu beschränken, die keine menschliche Bewertung erfordern. Wie weit dieser Ansatz trägt, ist jedoch offen. Dass man auch, wie Open AI behauptet, einiges aus deren Systemen »herausdestilliert« habe, ist nicht auszuschließen. Das entspricht dem Verhalten, das Open AI gegenüber den Urhebern der Quellen übt, die in diese Systeme eingehen. Daneben liegt die Vermutung nahe, dass auch der die GPUs adressierende Code auf Maschinenebene optimiert wurde. Die Leute bei DeepSeek stehen in dem Ruf, diese Technik bis ins feinste zu beherrschen. Vielleicht gibt es dort sogar verborgene, undokumentierte Instruktionen. Die 5 Millionen Dollar, die als Kosten des Trainings genannt werden, kommen zustande, indem man die Anzahl der GPUs mit der Anzahl der Trainingsstunden und einem (US-üblichen) Stundensatz pro GPU multipliziert. Das sind nicht die wirklichen Kosten der Entwicklung, die zudem in der Lage war, auf einem fortgeschrittenen Stand der Technik aufsetzen zu können. Sie zeichnet jedoch aus, dass sie Wege systematisch evaluiert und weitergetrieben hat, die keinesfalls Geheimnisse darstellen. Ein entscheidender Antrieb bestand in dem Willen, die durch US-Sanktionen auferlegten Beschränkungen zu umgehen.
Auf den ersten Blick glich der Einschlag der Nachricht von DeepSeeks Erfolg an den Kapitalmärkten der einer Oreschnik in einen Bunker. Während der Nasdaq-Index, in dem Hightech-Werte stark vertreten sind, am 27. Januar 2025 3,7 Prozent nachgab, traf es Nvidia, das in den letzten Jahren zum Unternehmen mit der weltweit höchsten Börsenkapitalisierung aufgestiegen war, massiv: um 18 Prozent, entsprechend einem fiktiven Kapital von ca. 600 Milliarden Dollar, ging der Kurs an der Wall Street bis zum Börsenschluss zurück, um am Tag darauf — was zu erwarten war, da die Shortseller, die auf das Fallen des Kurses gewettet hatten, ihre Kontrakte einlösen mussten — 10 Prozent zurückzugewinnen. Auf fallende Kurse kann man wetten, indem man sich die entsprechenden Aktien leiht, um sie zum aktuellen hohen Kurs in der Erwartung zu verkaufen, sie kurz darauf viel billiger zurückkaufen und zurückgeben zu können. Betroffen waren auch europäische Unternehmen: die niederländische AMSL, führender Erzeuger von Maschinen für die Herstellung von hochintegrierten Halbleiterschaltkreisen, verlor 8 Prozent, Siemens Energy, mit einer entsprechenden Position als Ersteller von Infrastruktur für die Produktion und Verteilung von elektrischer Energie, für die im Zuge des KI-Booms ein expandierender Bedarf erwartet wird, verlor 20 Prozent. Betroffen waren auch die Kraftwerksbetreiber. Da Carl Zeiss, die Nummer eins in der Technik für die Maskenbelichtung, mittels derer Schaltungen mit zig Millionen Elementen auf wenige Quadratzentimeter projiziert werden, um sie in Silizium prägen zu können, eine Stiftung und deshalb an keiner Börse gelistet ist, fehlen hier entsprechende Zahlen. Zeiss steht jedoch noch auf anderen Beinen wie der Mikroskopie, der Messtechnik, den Brillengläsern und der Materialtechnik.
Zwar recht schnell, doch für die Kenner der Materie völlig überraschend kam der Schlag trotzdem nicht. Die Befürchtung, dass der aktuelle KI-Boom und das in der Folge des Hungers der einschlägigen Software nach Prozessorzyklen expandierende Geschäft mit entsprechender Hardware, sich als Blase herausstellen könnte, ging an der Wall Street schon seit mehr als einem Jahr um — nicht zuletzt, weil einige nonkonforme Experten aus der KI-Szene, wie etwa Gary Marcus, schon seit Jahren davor warnen. Man darf davon ausgehen, dass an jenem Montag einige Shortseller, möglicherweise versehen mit Hinweisen aus China oder den westlichen Kreisen, die solche Entwicklungen beobachten, um Milliarden reicher wurden. Nicht zuletzt war es mit Marc Andreessen ein als Kenner der Materie geltender US-amerikanischer Hightech-Investor gewesen, der DeepSeek am Tag zuvor die nötige Publicity verschafft hatte, indem er von »AI’s Sputnik moment« sprach. Doch was bedeutet dieses Ereignis für die Beteiligten am globalen Hightech-Spiel? Zunächst ist festzustellen, dass hier Ingenieurskunst über brute force triumphiert. Doch bedeutet das nicht, dass die Technik der GPUs ihren Wert verloren hätte, sondern vielmehr, dass deren Leistung bei Anwendung der passenden softwaretechnischen Kniffe nicht generell, doch bei bestimmten Aufgaben, um ein Vielfaches zu steigern wäre.
Schon vor dem Erfolg von DeepSeek hatte sich die Frage gestellt, ob es für die im Bau befindlichen und projektierten Superrechenzentren mit zig Tausenden von GPUs genügend Bedarf geben würde. Das wenige Tage zuvor mit große Fanfare vorgestellte Stargate-Projekt von Open AI, Oracle und Softbank ist zwar das größte, doch nicht das einzige dieser Art. Die einschlägigen Investitionen der Magic Seven, also der führenden Hightech-Konzerne lagen schon 2024 bei ca. 224 Milliarden Dollar und die — kreditfinanzierte — Errichtung von Rechenzentren für KI-Anwendungen hatte sich zu einem neuen Geschäftsmodell entwickelt. Doch ein Blick in die Geschichte belehrt darüber, dass die Industrie noch nie ernste Probleme hatte, exponentiell wachsende Hardwarekapazitäten zu beschäftigen. Es gibt ein Gesetz, das den zugrunde liegenden Mechanismus beschreibt. Formuliert hat es Niklaus Wirth, einer der Gründerväter der Informatik und Schöpfer mehrerer Programmiersprachen, und benannt ist es auch nach ihm: Wirth’s Law. Seine gängige Formulierung ist Teil der Informatik-Folklore und lautet knapp: »Gordon hat es gegeben, Bill hat es genommen«. Mit Gordon ist Gordon Moore gemeint, der Gründer von Intel, der vor 60 Jahren das nach ihm benannte Gesetz, dem zufolge die Dichte der Elemente auf integrierten Schaltkreisen und damit deren Leistung sich im Takt von zwei Jahren verdoppelt — was lange galt, doch seit einigen Jahren nicht mehr gilt. Der andere ist Bill Gates, der sich bis Anfang des Jahrtausends darauf beschränkt hatte, PCs mit immer fetterer Software vollzustopfen und seither dazu überging, die Welt mit noch Schlimmerem zu belästigen. Niklaus Wirth vertritt seit Jahrzehnten und immer nachdrücklicher die These, dass die Softwaretechnik zunehmend an selbstgeschaffener Komplexität und Konzernbürokratie leide, unter denen wirkliche Ingenieurskunst sich nicht mehr entwickeln könne.
Das Geschäftsmodell, das sich Open AI und seine Nachahmer ausgedacht hatten, erfuhr auf jeden Fall einen empfindlichen Schlag, der allerdings nicht unerwartet kam, weil seine Verwundbarkeit schon immer erkennbar und von den Kennern auch erkannt und benannt worden war. Sie besteht darin, dass es auf diesem Feld nichts gibt, was lange ein Geheimnis bleiben kann. Alle einschlägig Ausgebildeten haben aus den gleichen Kochbüchern gelernt, die gleichen Übungen absolviert und können, sofern das jemand finanziert, prinzipiell die gleichen Experimente ausführen. Keiner der Spieler ist dazu in der Lage, seine Position mit einem moat, einem für die Konkurrent unüberwindlichen Burggraben, zu befestigen. Das fiktive Wettrennen um die globale KI-Dominanz findet auf einem Plateau statt, das keine Entscheidung zulässt. Solange es keine Innovationen gibt, die über die alten Kochbücher hinausführen, wird das so bleiben und gegenwärtig erschöpfen sich die sichtbaren Aktivitäten darin, die bekannten Rezepte ein wenig zu variieren und, vor allem, in immer größerem Maßstab anzuwenden. Dabei bleibt unklar, wie die immensen und weiter wachsenden Summen, die dafür ausgegeben werden, jemals wieder hereinkommen sollen. Wie auch immer, es ist damit zu rechnen, dass der Komplex von Big Tech, Big Pharma, Big Defense, Big Finance im Verein mit der US-Regierung anfallende Verluste in irgend welchen Bilanzen — und sei es die der Federal Reserve — unterbringen, doch vor allem alles tun wird, um die entstehenden Superrechenzentren nicht brach liegen zu lassen. Ideen für Produkte, vor allem von Big Defense und Big Pharma, die man uns gerne aufdrücken möchte, gibt es genug. Der Komplex wird so schnell nicht zusammenbrechen. Doch gibt es hinter der lauten Front ein leiseres Signal wahrzunehmen? Ja, und sogar mehrere.
Das erste besteht darin, dass der Zauber der LLMs verfliegt. Der Grenznutzen weiterer Investitionen in noch mächtigere Modelle und noch mehr Trainingsstunden auf noch mehr GPUs schwindet. Die enttäuschenden Leistungen des lange erwarteten ChatGPT 4.5 stellen ein klares Indiz für diesen Sachverhalt dar, den Gary Marcus schon 2022 erkannt hat. DeepSeek-R1 verfügt nicht nur über die gleiche Leistung wie seine Konkurrenten, sondern auch über deren Schwächen. Die maschinelle Superintelligenz, an deren Kommen auch Liang Wenfeng glaubt, ist so fern wie immer und wird auch nicht näher rücken. Vor allem trägt diese Technik auf ihrem aktuellen Weg wenig zur Lösung der drängenden Probleme bei, doch sehr wahrscheinlich einiges zu ihrer Verschlimmerung. Die Identifikation und Lösung der im Bereich der Technik liegenden sinnvollen Aufgaben, von denen einige zumindest teilweise der KI, bzw. dem Maschinenlernen, zugänglich sind, verlangt jedoch eine Ingenieurskultur, die von der bei Big Tech herrschenden, von Profitorientierung, Bürokratie, Konformismus, mangelnder Sorgfalt und Selbstüberschätzung gekennzeichneten, fundamental abweicht.
Dabei ist der durch DeepSeek ausgelöste Schock nicht das erste Beispiel dafür, dass jene Kultur in eine Sackgasse führt: der Fall der B727Max bei Boeing, wo man ignorierte, dass der Einbau neuer, wirtschaftlicherer Triebwerke, die ihres vergrößerten Querschnitts wegen nicht unter die Tragflächen in ihrer bestehenden Anordnung passten, einer sauberen konstruktiven Lösung bedurfte, und stattdessen auf einen fragilen steuerungstechnischen Quick Fix setzte, der die entstandene aerodynamische Instabilität nicht beseitigte. Das Ergebnis waren zwei Abstürze mit hunderten von Todesopfern und eine Rufschädigung, die weitere technische Mängel und Unfälle an anderen Stellen vertieften. Erleichtert wurde dies durch die Symbiose von Konzern und Staat, die zum Versagen regulativer Mechanismen führte — dieses Modell hätte nie zugelassen werden dürfen. Eine solche Symbiose lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten. Neben Big Pharma, wofür man im vorigen Satz nur »Modell« durch die passende Produktkategorie ersetzen muss, ist hier Big Defense in Augenschein zu nehmen. Gerade dann, wenn man militärische Verteidigung für sinnvoll und notwendig hält, wäre zu überlegen, ob die gegenwärtig beworbenen massiven Erhöhungen entsprechender Ausgaben wirklich sinnvoll sind. Wird der Westen sicherer, wenn er nicht nur zehnmal, sondern 15 mal oder 20 mal soviel fürs Militär ausgibt wie Russland und China? Der Militäranalytiker Andrei Martyanov vertritt die Meinung, dass es Russland gelang, durch gezielte Anstrengungen in entscheidenden Bereichen der Militärtechnik die USA mit vergleichsweise bescheidenem Einsatz zu schlagen, während diese immer mehr extrem teures, doch dysfunktionales Hightech-Spielzeug anhäuften. Die russischen Programme, so ist anzunehmen, begannen spätestens bzw. verstärkten sich, nachdem die USA 2002 den ABM-Vertrag gekündigt hatten, der Systeme zur Abwehr ballistischer Raketen entscheidend beschränkt hatte.
Offenkundig lebt die Ingenieurskunst in einigen Teilen der Welt — u.a. in China, in Russland, im Iran, wo man ebenfalls sehr einfallsreich ist, um den durch westliche Sanktionen verursachten Mangel auszugleichen — auf, während sie im Westen niedergeht. Das hat mit der Industriekultur, doch auch mit dem Bildungssystem zu tun. In dem Sachverhalt, dass Liang Wenfeng keine im Westen ausgebildeten, sondern nur Absolventen einheimischer Hochschulen beschäftigt, liegt eine weitere Botschaft. Einige US-amerikanische Hochschulen gelten als die führenden Ausbildungsstätten in den Naturwissenschaften, der Informatik und den Ingenieursdisziplinen, ein Master oder PhD von dort als die Krönung der Ausbildung, nach der der Nachwuchs weltweit strebt. Die entsprechenden Kurse dort füllen inzwischen zu mehr als der Hälfte ausländische Studenten, größtenteils aus asiatischen Ländern — was auch damit zu tun hat, dass US-Schulen nicht mehr genügend Jugendliche entlassen, die zu diesen Studien gewillt und in der Lage wären. Die USA hängen nicht nur davon ab, dass möglichst viele jener Studenten aus dem Ausland im Lande bleiben, sondern dass auch darüber hinaus Ausgebildete von dort als Arbeitskräfte kommen. Liang Wenfeng sagt, China habe es nicht nötig, seine besten Studenten an US-Hochschulen zu schicken, und vor allem, dass es im Lande genug herausfordernde Aufgaben gebe. Die beschriebenen Ereignisse unterfüttern die beiden folgenden Thesen:
1.Der Westen, sein Hegemon, seine dominierenden Kapitale, seine Eliten in kommandierender und dienender Funktion stoßen an Grenzen — an äußere wie auch an innere. Seine Dynamik in Bildung, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Hard und Soft Power lässt nach, während wachsende Teile der Welt sich abwenden, andere Orientierungen suchen, wenn nicht gar, wenn auch widerwillig, zu Gegnern werden, und im Inneren das Vertrauen in den medialen und politischen Hauptstrom schwindet.
2.Die Strategie, die, soweit bisher erkenntlich, zur Bewältigung der sich abzeichnenden Krise ergriffen wird, besteht nicht in einem neuen Zyklus von technischer und sozialer Erneuerung, sondern in verschärften Maßnahmen zur Sicherung und Vertiefung einer Herrschaft, die, begleitet von einem keinen Widerspruch duldenden Wahrheitsregime, bis in die Psyche und die Zellen des Organismus zielt. Innovationen werden vornehmlich zu diesem Zweck vorangetrieben, während der angeeignete Mehrwert immer mehr den Charakter einer Rente annimmt. Die leibliche Integrität der Subjekte soll sich auflösen, während an ihre Stelle ein Prozess der Normierung tritt, der die Überwindung des Menschen anstrebt: Fortschritt in den Transhumanismus. Zugleich wird versucht, die Abwendung der globalen Mehrheit aufzuhalten. Verdeckte Operationen, Proxy-Kriege, auch wirtschaftliche, in denen keine Rücksicht auf die Lebensinteressen der Proxies genommen wird, und militärische Interventionen hinterlassen eine Spur der Zerstörung und führen die Welt an den Rand einer atomaren Auseinandersetzung, die die menschliche Zivilisation in ihrer heutigen Form auslöschen kann. Der Nihilismus der westlichen Eliten, den Emmanuel Todd in seinem letzten Buch diagnostiziert, stellt die größte Gefahr für die Menschheit dar.
Das Bruttoinlandsprodukt der westlichen Ländern besteht — die USA gehen dabei voran — zunehmend aus Dingen, die für den größten Teil der Bevölkerung nutzlos, wenn nicht gar schädlich sind: ein aufgeblähter Finanzsektor, ein nicht minder aufgeblähtes Rechtssystem, das zu einem bedeutenden Teil durch den ersteren beschäftigt wird, eine überdimensionierte Medienwelt, die vor allem Ablenkung durch Scheinwelten und Ideologie hervorbringt, ein Medizinsystem, das einen wachsenden Teil des Volkseinkommens frisst, doch mit einer sich verschlechternden Volksgesundheit einhergeht (das der USA ist das teuerste und ineffizienteste der Welt), ein Militär und eine Rüstungsindustrie, die gleichfalls einen wachsenden Teil des Volkseinkommens fressen. Letztere geben sich Hightech-Spielzeugen hin, die keine Sicherheit schaffen und in einer Situation, in der sie, wie in der Ukraine, auf einen ernstzunehmenden Gegner treffen, eher schwach aussehen. Das alles, während die Lebensqualität der Massen sinkt.
Die Attraktivität des Dollars und seine Stellung als Handels-, Anlage- und Reservewährung ist ein strategisches Asset. Sie erlaubt es Akteuren mit Zugang zum Finanzsystem mittels Geldes, das die US-Notenbank drucken kann, die Waren der Welt zu kaufen, und der Regierung zusätzlich mittels der parallel dazu aufgebauten Kontrolle über das Weltfinanzsystem Transfers und Anlagen zu überwachen, um Druck auf beliebige Teilnehmer ausüben zu können. Von der verschärften Anwendung dieses Dispositivs geht jedoch ein Signal aus, das Akteure nach Alternativen Ausschau halten lässt. Ein wachsender Handel und zunehmende Anlagen außerhalb der Dollarsphäre stellen gegenwärtig noch keine akute Bedrohung dar, doch sind sie als Zeichen an der Wand zu lesen, die auf eine für die USA und den von ihnen geführten Westen gefährliche Entwicklung hindeuten.
Von keiner geringeren Bedeutung als die Attraktivität des Dollars ist die der US-amerikanischen Kultur, die immer mehr zu der des Westens geworden ist. Die Bedeutung dieses Sachverhalts liegt darin, dass diese Kultur — von der Popmusik über das Hollywood-Kino bis hin zu den Wissenschaften — Ideologie transportiert — die einer freien, vor allem von Rücksichten auf menschliche wie außermenschliche Natur freien, Wirtschaft und Gesellschaft, in denen es keine Grenzen gibt und jeder sein Glück machen kann — und Leitbilder anbietet, die ausstrahlen und den globalen Eliten zur Orientierung dienen sollen. Doch hat jene Ideologie mit ihren Leitbildern an Zuspruch verloren — auch in den Ländern EU-Europas und noch mehr weltweit. Eine gelenkte Marktwirtschaft nach chinesischem Vorbild, konservative Werte und, insbesondere in Ländern des globalen Südens, die Ideen nationaler Souveränität und eigenständiger Entwicklung finden vermehrt Zuspruch.
Nicht weniger wichtig für den Status der USA als die Fähigkeit, mit selbst gedrucktem Geld die Waren der Welt einzukaufen, ist die, Menschen anzuziehen — wofür neben dem Versprechen eines hohen Lebensstandards auch die Attraktivität der westlichen Kultur von Bedeutung ist. Kritisch wird dieser Sachverhalt zunehmend, weil die westlichen Gesellschaften und ihre Bildungssysteme — wie bereits angesprochen und besonders in den USA — nicht mehr dazu in der Lage sind, genügend Nachwuchs hervorzubringen, der geeignet und geneigt ist, eine Ausbildung in Naturwissenschaften, Ingenieurwesen, Mathematik und Informatik zu durchlaufen, um ihren Bedarf an entsprechenden Absolventen zu decken. Dass in den Postgraduierten-Studiengängen dieser Fächer an den führenden US-Hochschulen 50 und mehr Prozent Ausländer, überwiegend aus Asien, eingeschrieben sind, wurde bereits erwähnt. Der Ruf dieser Studiengänge, der maßgeblich für ihre Attraktivität ist, hängt zunehmend von Lehrpersonal ab, das selbst aus Zuwanderern besteht. Ein Nachlassen der Anziehungskraft des Westens für begabte bzw. qualifizierte Zuwanderer würde seine Fähigkeit, den Stand von Wissenschaft und Technik zu halten, beeinträchtigen.
Die Bedeutung des relativen Mehrwerts, also von Vorteilen durch überlegene Produktivität, lässt nach zugunsten einer Expansion der absoluten Mehrwertproduktion — das Heer von Klickworkern, Paket- und Fast-Food-Boten, sonstigen Dienstleistern und Sweatshop-Arbeitern —, während der Trend zum Oligopol ungebrochen ist. Die Aneignung von Mehrwert findet, wie Yanis Varoufakis ausführt, vermehrt in der Form von Renten statt. Die Tech-Konzerne schaffen mit ihren Plattformen synthetische Gesellschaften und haben dafür ein Modell etabliert, in dem Geschäftsprozesse und selbst der alltägliche Lebensvollzug unvermeidlich die dort installierten Mautstellen passieren und sich in einem Maße exponieren müssen, dass die dabei anfallenden Daten als Schlüssel zur zielgenauen Adressierung von Produktangeboten bzw. zur Manipulation Wert erhalten und dadurch zur Ware und zum Machtfaktor werden. Eine wachsende Rolle spielt der Zwangskonsum von ›Sicherheit‹: die ist ›Produkt‹ eines wuchernden Systems der Überwachung, von psychischer Lenkung und physischer Modifikation — sichtbar wurde das in Gestalt von Masken, Desinfektionsmitteln, Tests und Injektionen im Zeichen der »Biosicherheit« — und von expandierender Rüstung im Zeichen der »Zeitenwende«. Doch geht es dabei nicht um Sicherheit, sondern um Profit und um Herrschaft. Was stattfindet, ist die Kolonisierung des Alltags, während demographische und epidemiologische Indikatoren zur Verfassung der Gesellschaft ignoriert werden. Letztere waren, als es noch um die Arbeits- und Wehrfähigkeit der gesamten Bevölkerung ging, wesentliche Instrumente der Biomacht. Die zielt, in ihrer neuen Gestalt, unbesorgt um destruktive Effekte, ins Innere von Organismus und Psyche.
Als großmaßstäbliche Übung zum neuen Herrschaftsmodell kann die Simulation einer Pandemie in den Jahren 2020–2023 gelten. Das darin sichtbar werdende Dressur-, Wahrheits- und Bioregime wird fortgesetzt unter beständig neu ausgemalten Bedrohungen von außen: biologischen durch neue Viren, militärischen und informationellen durch Russland, Iran und China. Ob Virus oder Putin: der Konstruktion äußerer Feinde kommt eine Schlüsselrolle zu, Sie legitimiert die Abschließung nach außen und die Ausschließung von Unpassendem im Inneren. Wer das offizielle Bild des Virus, den Sinn der angeblich dagegen ergriffenen Maßnahmen in Frage stellte, wurde zu dessen Komplizen und damit zum Feind der Gesellschaft. Wer heute von der Geschichte des Ukraine-Konflikts eine komplexere Version vertritt als die herrschende Politik und die ihr akklamierenden, wenn nicht gar sie anfeuernden Medien, wird zum Agenten Putins gestempelt. Entsprechendes gilt für Themen wie die Erderwärmung und die Figur des »Klimaleugners«, das wissenschaftliche Verständnis von Geschlechtlichkeit, das einen schnell zum »Trans-Feind« macht, und weitere. Feindbildkonstruktion und Gleichschaltung der Diskurse gehen Hand in Hand.
»Sicherheit« ist ein Vorwand und die »wissenschaftlichen« Begründungen für die Vorkehrungen und Maßnahmen, die mit horrendem Aufwand — Tests, Masken, Impfungen waren Zwangskonsum im genannten Sinne — exekutiert bzw. plakatiert werden, bedeuten nicht, wie Tove Soiland meint, die »Erosion des Politischen«, sondern stellen dessen Maskierung als Wissenschaft dar. Die Vorgehensweise ist im Einzelfall von Querdenkern und -läufern noch klassisch-repressiv, doch zielt sie auf die Formung und Umgestaltung von Psyche und Physis bis in die Tiefe der Zellen. Es geht um die Utopie eines neuen, mit der erstrebten Herrschaft kompatiblen Menschen, der die biokybernetisch konditionierte Existenz in den elektronischen Verliesen der virtuellen Wertschöpfung als Glied einer synthetischen Gesellschaft und höchstes Glück erleben soll.
Die Chancen, dass letztere Utopie sich realisieren wird, sind gering. Die Ansätze zu ihrer Realisierung finden auf einem Dampfer statt, der Kurs auf ein Seegebiet mit gewaltigen Eisbergen nimmt. Dies unter einer Führung, die, im unerschütterlichen Glauben, auf dem richtigen Kurs zu sein, wie die der Titanic, die es nicht für nötig befand, auf offener See eine Positionsbestimmung vorzunehmen, den Kontakt mit der Realität aufgegeben hat. Sie wird im Inneren an der Realität menschlicher Leiblichkeit, im Äußeren am Unwillen eines wachsenden Teils der Weltbevölkerung, der Nationen, die diese bilden, scheitern. Die Frage ist nur, wie viel Verwüstung die aktuellen und zu erwartenden Kollisionen hinterlassen, wie viel Aufwand deren Bereinigung, sofern noch möglich, kosten wird.
Für Europa und besonders für Deutschland ist essentiell, die fortschreitende Schädigung von Wirtschaft und Gesellschaft, die mit der aktuellen, US-Interessen vorauseilend bedienenden, Politik verbunden ist, zu bremsen und möglichst umzukehren. Die dazu gewillten Kräfte sind noch zu schwach. Die AfD, die das zumindest partiell im Programm stehen hat, wird gerade gekapert und transatlantisch auf Kurs gebracht. Dass dieses Programm sozial- und wirtschaftspolitisch zudem völlig indiskutabel — nämlich von den Vorstellungen der CDU und FDP kaum zu unterscheiden — ist, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Eine Abkehr vom katastrophenträchtigen Kurs der letzten Jahrzehnte verlangt, wie Michael von der Schulenburg jüngst betonte, eine Hinwendung zu den Nationen, die zunehmend nach Unabhängigkeit vom Westen und seinen Institutionen streben, also insbesondere zu den BRICS-Staaten. Dieser Weg kann zur Nutzung bestehender und Entwicklung weiterer komplementärer Fähigkeiten und einem entsprechenden Austausch führen.
Wichtig ist es jedoch zu verstehen, dass die BRICS-Staaten, anders als die des Blocks um die Sowjetunion im vorigen Jahrhundert, kein einheitliches Schema gesellschaftlicher Entwicklung teilen, sondern unter Wahrnehmung ihrer Interessen jeweils einen ihren eigenen Traditionen und Prioritäten entsprechenden Weg gehen und dabei zusammenarbeiten wollen. Dabei haben einige schon Leistungen erbracht, die es wahrzunehmen und zu evaluieren gilt. Der Erfolg von DeepSeek gehört sicher dazu. Doch kann es nicht darum gehen, alles zu übernehmen, womit China Erfolg hat. Gerade wenn es um die Zukunft der Industrie und die Bedeutung der KI geht, darf das Ziel nicht in der Nachahmung chinesischer Wege bestehen, insbesondere nicht in der Teilnahme an einem, wahrscheinlich nur in der Phantasie politischer Kommentatoren stattfindenden, KI-Wettlauf. Bestimmte Teile der Industrie werden sich schon deshalb nach Asien verlagern, weil die Nähe zu den Märkten für sie wichtig ist; andere werden nur bleiben können, wenn die Selbstabschneidung von erschwinglicher Energie beendet wird. Entscheidend wird jedoch sein, ob es gelingt eine realistische Vision für eine Gesellschaft, für eine deren Mitgliedern dienende Industrie Infrastruktur im Europa des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Dazu wird es notwendig sein, die innige Beziehung von Staat und einigen Fraktionen der traditionellen Industrien, insbesondere den Automobilherstellern, zu lockern — was leichter fällt, wenn deutlich wird, dass diese ihre tragende Funktion ohnehin nicht zu halten vermögen.
Mindestens so wichtig und zu dem vorigen Ziel unerlässlich ist es, die fortschreitende Zerstörung der Bildung aufzuhalten. Das betrifft sowohl ihren humanistischen als auch ihren mathematisch-naturwissenschaftlichen Inhalt. Michael Brie forderte kürzlich mit Blick auf China in der Berliner Zeitung eine Bildungsoffensive. Doch das ist leichter gesagt als getan. Es kann nicht darum gehen, die Paukschule, die in China, Indien und weiten Teilen der Welt noch dominiert, wiederherzustellen. Es wird entscheidend sein, nicht nur Schulen und Hochschulen zu schaffen, an denen man tatsächlich Bildung erwerben kann, sondern ihren Besuchern zwischen Schule und Social Media noch Raum zur selbständigen Entwicklung zu lassen.